DSC00034 Medium
 

Žarnovica -  Banská Štiavnica – Žarnovica

Jörn Kaufhold / Slowakei / September 2016

2 Tagestouren, jeweils 23 km, wenn man sich nicht verläuft.  Vor einigen Monaten bin ich schon einmal mit einem Freund von  Banská Štiavnica nach Žarnovica gelaufen. Und wieder ist mir das gleiche Malheur passiert: der rote Pfeil zeigt rechts, ich gehe rechts und lande im Gebüsch. Ich folge der roten Linie  auf der Wanderkarte und schlage mich durchs Gebüsch. Die letzten 15 Meter sind so steil, dass ich in einem Zwischending aus kontrolliertem Fallen  und Surfen bergab rutsche und auf der Uferstraße des Flusses Hron lande.

In den letzten beiden Tagen bin ich 46 Kilometer gelaufen, 3.300 Höhenmeter  auf- und abgestiegen und jetzt fehlen mir noch 500 Meter Wanderweg, um den Mikrowanderführer zu vervollständigen.  Umdrehen kann ich nicht, weil in wenigen Minuten mein letzer Bus geht und ich nichts zum Übernachten dabei habe. Außerdem ist es mittlerweile stockdunkel. So bin ich gezwungen ein anderes Mal zurückzukommen und den Wegverlauf noch einmal in Ruhe ohne Zeitstress auszutüfteln.

Die letzten zwei Tage in den Štiavnicer Bergen waren voller Sonnenschein und blauem Himmel. Zwei Tage im September, die im August auch nicht hätten sonniger sein können. Wobei, als ich in Zarnovica loslaufe, stehe ich im Nebel, der vom Fluss Hron hoch steigt. Ich beeile mich sehr, um in den Bergen noch steigende Nebelfetzen fotografieren zu können.  Vergebens, eben war noch alles grauweiß und schon ein zwei Atemzügen später hat die Sonne jegliche Feuchtigkeit aus der Luft verbrannt. 

Während ich langsam das Dorf verlasse, denke ich über Asphaltstraßen, Wirtschaftswege und Pfade nach. Asphaltstraßen führen mich von der Haltestelle hin in den Wald. Hinter dem Dorf fangen dann die Wirtschaftswege an, ohne geschlossene Bodendecke, dafür mit allerlei Fahrspuren zerfurcht. Sie greifen in den Wald, angelegt, um die Ressourcen aus dem Wald rauszuholen. Rechts und links die Drückwege, die den Waldboden so schinden. Im Gegensatz zu den geraden Linien der Asphaltstraßen verlaufen  Wirtschaftswege in weitschwingenden Kurven, die den jeweiligen Höhenlinien Respekt zollen.  

Dann kommen die Pfade, auf die mich es zieht, um deren willen ich gehe. So breit wie die eigenen Schultern mäandern sie wie  Flüsse durch die Wälder. Jeder umgestürzte Baum, jeder Fels geben dem Wegverlauf eine eigene Nuance. Statt in Fahrspuren trete ich in Trittsiegeln von Tieren, die vor mir hier entlang gelaufen sind. Asphaltstraßen sind unvermeidlich, auf Wirtschaftswegen komme ich schnell von A nach B, aber tief in die Erinnerung brennen sich mir vor allem Pfade ein.  

Steil führt mich der Bergpfad auf den Kamm. Es ist zugewachsen, junge Buchen strecken ihre Äste in den Weg, um mehr Sonnenlicht zu erreichen. Der ausgetretene Boden zeigt mir den Wegverlauf an. Natürlich springt einige Meter vor mir eine Rehgeiß auf. Sie flüchtet nicht weit, nach einigen Sprüngen ist die Sicht versperrt und ich höre nichts mehr. Vermutlich steht sie da, wie ich, in den Wald hineinhorchend. Nach einer Weile wird sie hören, wie ich mich weiter durchs Dickicht drücke. Zur Sicherheit wird sie noch etwas lauschen, um sich dann wieder hinzulegen und weiter wiederzukäuen. 

Oben erwische ich den Höhenweg, der mich ohne nennenswerte Steigungen für einige Stunden führen wird. Mal führt er durch den Wald mit vielen Sonnenflecken, dann wieder raus auf die sonnenverbleichten Wiesen. Die Augen brauchen jedes Mal etwas Zeit, um sich neu zu arrangieren. Früher waren hier oben Weiden für Schafe aus dem Tal. Jetzt sind es bunte Kräuterwiesen, die mal offen gehalten werden, mal  verbuschen.   

Mir kommt ein alter Mann entgegen. Er trägt einen Blaumann und einen geflochtenen Korb, aus dem einige Röhrenpilze, grüne Haselnüsse und ein riesiger Parasol ragen. Wir kommen miteinander ins Gespräch. Zum Schluss meint er, dass er in seinen 82 Jahren gelernt hat, dass nur drei Dinge von Bedeutung sind: „Der Herrgott, die Familie und die Berge“. Er schaut mich dabei lange an, skeptisch ob ich mit meinen  -  in seinen Augen -  jungen Jahren in der Lage bin, seine Worte in der Tiefe nachzuvollziehen.  

Ich finde eine Höhle. Oder ist es ein alter Stolleneingang? Die Štiavnicer Berge sind durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Seit dem Mittelalter wurde in den Bergen erst wild, dann staatlich kontrolliert Gold, Silber und Kupfer abgebaut. Ich schlüpfe durch eine mannshohe Spalte. Die kaltfeuchte Luft ist eine willkommene Abkühlung. Durch Löcher fällt grelles Licht hinein, das nach einigen Meter in der Dunkelheit versickert. 

Später begegne ich einer Hirschkuh, in der Mittagszeit auf einer Wiese, sehr ungewöhnlich. Sie sieht mich und überlegt lange, ob sie zurück oder weiter laufen soll. Ich filme sie, wie sie die weite Wiese quert. 

Mein Lieblingsort auf dieser Etappe ist der Gipfel „Paradais“. Ich stehe über Banská Štiavnica mit Blick auf die umliegenden Berge und lasse die Sonne hinter meinen Rücken untergehen. Die Schatten vor mir werden länger und das Licht goldig. Keins meiner Fotos wird nachher annähernd die Stimmung wiedergeben. 

Der zweite Tag beginnt mit einem Aufstieg, zunächst durch die kopfsteingepflasterten Gassen von Banska Stiavnica, dann durch die zahlreichen Waldpfade, die noch zum Stadtgebiet gehören. Im Mittelalter ist Banská Štiavnca entstanden, als die Bergleute direkt an den Hängen ihre Häuschen bauten und in ihren Gärten Bergbau betrieben.  Mich als passionierten Fußgänger beglücken all die kleinen Pfade, die auf natürlichen Böden bis heute begangen werden. 

Vom Aufstieg bleiben mir vor allem die Reihe alter Linden nicht weit von der neu errichteten Pension Altmayer in Erinnerung. Ihre Gestalten sind eindrucksvoll ausladend. Im Vorbeigehen bedanke ich mich im Stillen bei all den Leuten, die diese Bäume haben stehen lassen. 

Oben auf dem Höhenweg geht es durch ein gelbgebranntes Gräsermeer über bewaldete Berghänge. Es nicht allzu hoch da oben an Metern. Da ich aber tief runter schauen kann, fühle ich mich über den Dingen. Es ist heiß da oben in der Sonne, das Licht fast weiß, monotoner Heuschreckengesang lullt mich ein. Beim Gehen fühle ich mich wie beim Einschlafen: wohlig warm, tiefenentspannt, an der Grenze zum Wegdämmern. 

Das geht eine ganze Weile so, bis ich wieder in die Wälder eintauche und an die Grenze des Naturreservats Kojatin gelange, wo ich auf einen Grat aufsteige. Von nun muss ich aufpassen, denn die Bäume liegen kreuz und quer. Zwar ist der Pfad streckenweise nicht erkenntlich, mit etwas Achtsamkeit  aber  leiten die häufig angebrachten Markierungen sicher.  Es ist später Nachmittag und wenn der Grat abbiegt, laufe ich, so kommt es mir vor, in die untergehende Sonne hinein.

bs02 Unterwegs finde ich Wegzeichen von 1967, die in den Jahrzehnten in den Baum gewachsen sind. Immer wieder sehe ich Steine, die frisch umgedreht wurden. Darunter aufgewühlte Erde. Ich finde Spuren von einem Bär, wie von einem Dachs. Ich bin mir nicht sicher, wer jetzt von den beiden die Steine bewegt hat – sicher ist aber, dass beide hier oben unterwegs sind. Genauso wie eine Vielzahl von Waldeidechsen, die den steinigen Untergrund mögen und sonnenbaden. 

Wehmütig steige ich schließlich ab und erreiche das Patriarchenkreuz, das über den Fluss Hron thront. Dahinter schlage ich mich ins Gebüsch. Ein halber Kilometer Wanderweg ist futsch. Ich muss noch mal wiederkommen. Was für ein Glück!