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Blut im Schnee

Text: Anne Wiebelitz, Fotos: Gauthier Saillard / Slowakei / Februar 2018

Der Schnee fällt in dichten Flocken in das nebelige Flusstal. Er dämpft die Geräusche und bleibt wie Puder auf den Fichten liegen. Ich höre nur das Klapp-Klapp der Schneeschuhe, mit denen wir zu viert durch das Tal aufsteigen. Wir passieren zwei, drei Häuser und kurz darauf einen in die Jahre gekommenen, rostigen Skilift.

Es ist unser erster Tag in der Muranska Planina, einem Gebirge südlich der Niederen Tatra in der Slowakei. Wir sind eine Gruppe von freiwilligen Fährtenleserinnen: für den Nationalpark Muranska Planina und die NGO Diana suchen wir nach dem Vorkommen von Luchsen und Wölfen in dem Gebirge. (Mehr zum dem Projekt findet ihr in dieser Geschichte) Heute sollen wir auf einen Kamm steigen, wo in den vergangenen Wintern manchmal Wolfsfährten gefunden wurden, aber wir rechnen uns bei dem Wetter keine Chancen aus, sie zu finden.

Bei solchem Schneefall ist das Spurenlesen eine echte Herausforderung. Die einzelnen Trittsiegel der Tiere verwischen bis zur Unkenntlichkeit, so dass wir vor Löchern im Schnee stehen. Doch immerhin können wir aus der Spurlänge und -breite Schlüsse daraus ziehen, wer hier so unterwegs war und in welcher Geschwindigkeit: Rothirsch? Wolf? Luchs? Die drei hinterlassen etwa ähnlich große Löcher. Fuchs? Reh? Auch deren Löcher sind annähernd gleich. Oft entsteht dabei vor meinem inneren Auge entsteht ein Tier – und wenn es z.B. zu einem seltsam länglichen Fuchs wird, dann war er vermutlich trabend, in seiner Lieblingsgangart unterwegs. Aber manchmal geraten wir auch auf die falsche Fährte…


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Eine vermeintliche Hirschspur führt uns nach einigen Metern ins dichte Unterholz und endet schließlich an einem Baum. Ein kletternder Hirsch? Noch dazu besonders klein und beweglich, weil er – im Unterschied zu uns - unter 30 cm über dem Boden hängenden Ästen hindurch kommt? Unser Gehirn, das nach Assoziationen und Interpretationen sucht und am liebsten alles in bereits bekannte Kategorien einsortiert, hat uns einen Streich gespielt: Es war ein Marder! Er hat sich springend durch die Landschaft bewegt und dabei Löcher im Schnee hinterlassen, die zugeschneit verdächtig an Hirschspuren erinnern. Unter dem Baum liegt weniger Schnee und wir erkennen sein Trittsiegel noch deutlich.

Es schneit weiter heftig, wir steigen weiter bergauf. Frische Spuren: Fehlanzeige. An den Wegkreuzungen oben auf dem Kamm teilen wir uns auf und gehen jede ein Stück in eine Richtung – vielleicht war hier ein Rudel Wölfe unterwegs? Aber wir finden nur Hirsche, die langsam laufend von einer Seite des Weges zur anderen pendeln und ihre Hälse in Richtung Sträucher stecken: oft sind die Knospen abgebissen. Für sie ist es jetzt, bei einem halben Meter Schnee und Temperaturen bis -11 Grad (nachts) besonders schwer hier draußen. Gegen halb eins hört der dichte Schneefall auf.

Zwei Stunden später stehen wir an einer Kreuzung und überlegen anhand Karte und GPS, welcher Weg uns zurück ins Tal bringen wird. Gegen vier geht die Sonne unter und wir wollen uns auf den Heimweg machen. Und siehe da… während wir diskutieren, welcher der Wege der richtige sein sollte, findet Immo die erste frische Spur des Tages. Sie kommt aus einem der Wege, von dem das GPS sagt, es sei der falsche Weg. Wieder ein Hirsch? Irgendetwas ist komisch. Das Tier war schnell, im Trab unterwegs – mitten auf der breiten Wegkreuzung von 5 Forstwegen. Und siehe da: nach fünfzig Metern erkennen wir eine eindeutige Pfote: etwa 9 x 9cm groß. Mit Krallen. Und in die  Spur und dem vom Laufen aufgeworfenen Schnee hat es nicht hineingeschneit.

Kombiniere: Vor zwei Stunden hat es aufgehört zu schneien, also muss das Tier vor weniger als 2 Stunden hier langgelaufen sein. Wir werden aufgeregt. Alles deutet darauf hin, das hier vor kurzem ein oder mehrere Wölfe unterwegs waren. In Anbetracht der Zeit entschließen uns für Backtrailing: wir gehen in die Richtung, aus der das Tier gekommen ist, weil die Himmelsrichtung stimmt: im Südosten, irgendwo unten im Tal an der Straße, steht auch unser Auto.


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Das Tier – die Tiere? - läuft schnurgerade im Trab, manchmal im Galopp den Forstweg entlang. Wölfe laufen im Rudel meist Fuß in Fuß, so dass man oft kilometerweit der Spur folgen und denken könnte, da wäre ein Wolf unterwegs, bis man dann, wenn 5 Wölfe aus der Spur treten, eines besseren belehrt wird. Wir versuchen auch in Schneeschuhen hintereinander zu gehen, Fuß in Fuß – es klappt nur ein paar Meter, dann bin ich aus dem Takt und trete daneben.
Dadurch sind jede Zweifel beseitigt: das war kein Hund, der mehr durch die Gegend daddelt, hier und da riecht, Markierungen setzt und meist von Menschenspuren begleitet sind. Hier waren Wölfe unterwegs – aber warum so schnell? Der Weg führt uns zunächst parallel des Kammwegs entlang, auf dem wir vorher unterwegs waren. Unsere Köpfe laufen heiß: Vielleicht haben wir sie aufgeschreckt und sie waren auf der Flucht vor uns? Hat nicht um die Mittagszeit an der einen Kreuzung ein Eichelhäher gewarnt, ein Kolkrabe gekrächzt und mehrere Meisen haben Alarm geschlagen? Wir sollen bald erneut eines besseren belehrt werden.

Plötzlich entdecken wir ein paar rote Tropfen in einem Trittsiegel: gefrorenes Wolfsblut, vermutlich von einer kleinen Verletzung an der Kralle. Vorsichtig packen wir es in die Röhrchen, die wir von Nuno bekommen haben, der zur Verteilung der Wolfsrudel und -territorien in der Slowakei forscht. Es wird ihn freuen, denn genetisches „Material“ hilft dabei sehr – wir hoffen während der ganzen Fährtenlese-Woche auf ein Stück Losung (also: Scheiße) am Weg. Wir sehen hier, das es mindestens zwei Tiere waren: eins ist aus der Spur getreten und hat einen Blick zurück in das Tal geworfen, aus dem sie wohl hochgekommen sind. Die Sonne ist mittlerweile untergegangen und hinterlässt einen blutroten Abendhimmel.

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Wir laufen mit Herzklopfen weiter. Wir gehen nun schon über eine Stunde neben ihnen her, immer noch auf einem Forstweg. Wie lange werden sie wohl für die Strecke gebraucht haben? Eine Viertelstunde? Das GPS zeigt uns an, das uns die Spur immer noch in Richtung unseres Autos führt. Das Tal, durch das wir heute morgen aufgestiegen sind, ist nicht mehr weit. Wir überqueren eine Bergkuppe, sind jetzt auf gut 850 Höhenmetern, ab jetzt geht es bergab. Plötzlich eine Weggabelung – „unsere“ Wölfe kommen hier von Norden, was wieder auf den Kamm hinauf, weg von unserem Heimweg führt. Und während ich noch darüber nachdenke, ob es eine gute Idee ist, ihnen weiter zu folgen, entdecken wir, das hier nicht nur unsere zwei Wölfe unterwegs waren! Ein Rudel hat sich an dieser Stelle aufgegabelt: mindestens ein Wolf läuft hier bergab – nach Südosten, ins Tal. Genau unsere Richtung. Wir folgen also jetzt dieser Spur und laufen mit dem Wolf, bzw. den Wölfen bergab.

Sie sind immer noch sehr hastig unterwegs, und plötzlich kommt eine Spur hinzu: Wir sehen deutliche Hufe. Der Größe nach ein Hirsch – die Spur ist unregelmäßig, auch er ist schnell, im Galopp unterwegs. Ist das hier der Beginn einer Jagd? Die Tiere galoppierten bergab, wir hinterher.

Dann, der Weg macht eine Biegung, aber die Spuren führen geradeaus, eine Abkürzung zwischen den Bäumen hindurch. Hier können wir nicht lang, denn nur nach wenigen Metern finden wir uns vor einem gut drei Meter hohen Abhang. Darunter liegt der Forstweg. Wir laufen außen herum auf dem Weg und sehen: sowohl Hirsch als auch Wölfe sind hier heruntergesprungen! Wir schauen uns stumm an. Die Wölfe müssen dem Hirsch dicht auf den Fersen gewesen sein, wenn er das Risiko eingeht, diesen Sprung zu wagen.


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Wir können von hier nun schon von weitem den Skihang sehen, an dessen Ende der verlassenen Skilift steht, an dem wir heute morgen vorbeigekommen sind. Die Spuren führen nun steil den Hang hinab ins Tal. Wir trennen uns auf: Immo und Sebastian laufen hinter den Spuren her den steilen Weg ins Tal, Gauthier und ich laufen den leichteren, dafür längeren Weg hinab. Am Skilift wollen wir uns wieder treffen. Es ist mittlerweile fast dunkel, wir laufen schweigend den Weg bergab. Als wir die Talsohle erreichen und den Bach queren, fallen uns wieder Spuren auf. Wir schalten die Stirnlampen ein und sehen, was ich seit einigen Minuten nur als Vermutung hatte, als mir eine Spur auf dem Weg neben mir auffiel: das auch hier wieder Wölfe kurz vor uns unterwegs waren – und zwar wieder in der entgegengesetzten Richtung. Es ist ein großes Durcheinander an Spuren und wir schließen auf mindestens vier, fünf Tiere, die hier wild durcheinanderlaufen. Wir beschließen, im Dunkeln nicht weiter zu forschen. Kurz darauf sind wir auf dem Weg, den wir heute Morgen im dichtem Schneefall hinaufgekommen sind.

Und hier kommt noch etwas hinzu, was selbst mir diesen bruchstückhaften Krimi, den wir hier Stück für Stück im Schnee lesen, fast unrealistisch erscheinen lässt: Die Wölfe haben uns nicht nur den direkten Weg nachhause gezeigt. Sie sind auch beim Queren des Tals durch unsere Spuren von heute morgen gelaufen! Hirschspuren sind hier allerdings keine dabei. Ein paar hundert Meter weiter treffen wir auf Immo und Sebastian. Sie warten an der Stelle, wo Wölfe und Hirsch den Fluss gequert haben: über unseren Weg und unsere im Gegenzug schon recht alten, weil eingeschneiten, Schneeschuhspuren von heute morgen und weiter den nächsten Berg hinauf. Ich bekomme eine Gänsehaut bei der Vorstellung, wir hätten an dieser Stelle einen Sitzplatz gemacht: dann wären um die Mittagszeit Hirsch und Wölfe in Panik bzw. im Jagdfieber einfach an uns vorbei gestürmt, wohl ohne uns zu bemerken.

Wir beschließen, hier abzubrechen. Es ist Abend, und wir wissen nicht, wie dieser Krimi weitergeht. Haben die Wölfe den Hirsch weiter verfolgt? Konnte er ihnen entkommen? Warum kamen die Wölfe ein Stück weiter oben im Tal zurück? Wir verlassen das Tal mit dem Gefühl, das ich früher von packenden Serien kannte: ich will unbedingt den nächsten Teil sehen. Aber das hier ist nicht Netflix, wo die nächste Folge automatisch weiterläuft. Erstmal ist es Nacht.

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Ich hänge auf der Rückfahrt ins Nationalparkzentrum noch einem Gedanken nach: was wissen wir, was weiß ich eigentlich schon von den Zusammenhängen hier draußen? Wir sind so gewöhnt, in Ursache und Wirkung, in linearer Zeit zu denken und zu unterteilen… vielleicht ist das ganze viel komplexer und magischer. Wir waren vielleicht an dem Tag nicht nur Beobachter und Fährtenleser, wie wir gern glauben möchten. Wer weiß schon, ob die Wölfe wegen uns, aufgeschreckt oder nicht, einen anderen Weg eingeschlagen haben? Und der sie erst auf die Fährte des Hirsches geführt hat? Die vielen Fährten sind verwirrend, und wir zeichnen abends wild auf den Karten ein, wo wir was entdeckt haben: Die Rote und pinkte Farbe sind Wölfe, die blaue der Hirsch, die gelbe sind wir. Sinn ergibt es trotzdem keinen.

Muranska Planina Blut im Schnee

Am nächsten Tag, wir sollen heute in einem anderen Gebiet des Gebirges nach Luchsspuren Ausschau halten, kommt ein Anruf: ein Ranger, der im Nachbartal unterwegs ist, hat eine tote Hirschkuh gefunden! Das muss das Ende unserer Jagd gewesen sein. Wir versuchen zu rekonstruieren: die Wölfe müssen die Hirschkuh noch zwei Kilometer über den Berg und wieder hinab ins nächste Tal gehetzt haben. Am Morgen danach suchen wir den Riss auf. Es hat in der Nacht wieder geschneit und Schnee bedeckt das Tier am Bach. Drumherum ein großes Durcheinander an Spuren, Wölfe und frischere Fuchsspuren, die sich an den Überresten ebenfalls gütlich getan haben müssen. Keine Raben zu sehen und zu hören. Die Szene ist still... des einen Ende, des anderen Überleben. So bewegend wie es ist: Es ist, was ist.

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Einige Fragen bleiben bis heute offen. Wir können uns nicht schlüssig erklären, warum die Wölfe, die uns erst auf die Fährte gebracht haben, so schnell in die Gegenrichtung unterwegs waren. So hüten wir die Fragen und leben vielleicht, eines Tages in die Antworten hinein…