Packraft March
 

6 Tipps, um in den Fluss zu kommen

Jörn Kaufhold / Herbst 2020 / Slowakei

Während der vergangenen Restriktionen, von denen wir in der Slowakei einige hatten, habe ich versucht, meine Sehnsucht nach Natur digital zu stillen. Was natürlich von vornerein zum Scheitern verurteilt war. Ein Surrogat kann nicht das Original ersetzen, allenfalls die Entzugserscheinungen mindern. Mir ist bei diesen vielen Stunden des Starrens auf dem Bildschirm aufgefallen, dass bei all den Bikepackern, Thru-Hikern und Kayakern zwei Dinge im Vordergrund zu stehen scheinen: Ausrüstung und Leistung.

Was beides in Ordnung ist. Es hat was seltsam Entspannendes über die richtigen Wanderschuhe nachzudenken. Die Suche nach dem perfekten Ausrüstungsgegenstand - der eierlegenden Wollmichsau - ist wie die Jagd auf den Heiligen Gral. Wir werden ihn vermutlich nie finden, aber schon die Online-Suche nach ihm löst mit jedem Klick kleine Dopaminstoße des Wohlbehagens aus.

Vor kurzem habe ich mir ein 14 Minuten und 13 Sekunden langes Video angeschaut, in dem ein junger Mann namens Stringbean den Versuch unternimmt, eine neue Rekordzeit für den 3.500 langen Kilometer Appalachen Trail zu laufen. Er war erfolgreich: für 3.500 Kilometer braucht er 45 Tage, 12 Stunden und 15 Minuten. Dafür ist er jeden Tag mehr als 70 Kilometer gelaufen. 70 Kilometer am Tag!

Und ich sitze nun in meinem Packraft, russischer Marke, billig erworben als Komplettpaket mit aufblasbarer Rettungsweste und einem zusammensteckbaren Paddel, was, das merke ich jetzt deutlich, viel zu kurz für mich ist. Mir schwirren hohe zweistellige Kilometerzahlen durch den Kopf, die ich auf Thaya und March paddeln könnte. Vor meinem geistigen Auge sehe ich all die wunderschönen Drohnenaufnahmen von sonnigen Flussverläufen, die mir Youtube im letzten Lockdown ins Hirn tätowiert hat.

Wäre da nicht das zu kurz geratene Paddel. Oder ist das Packraft zu breit? Der Sitz ist auf jeden Fall zu tief angebracht, da bin ich mir sicher. Nur wenn ich meine beiden Arme im faschistischen Winkel schräg nach oben ausstrecke, gelingt es mir mit dem Paddel die beiden Schlauchwülste rechts und links zu überwinden. Kaum ist Břeclav außer Sichtweite brennen schon meine Oberarmmuskeln. Und es sieht nach Regen aus. Die Wolken hängen so tief, dass, selbst wenn ich eine Drohne hätte, sie schon nach wenigen Metern im dunklen Grau verschwunden wäre.

Kommt das jemand bekannt vor? Schon jemals ähnliches erlebt? Vermutlich, oder? Mir passiert das andauernd. Immer zwickt etwas, wo es nicht zwicken soll, und dann kommen die beiden Verlockungen ins Spiel: Ausrüstung und Leistung. Mit dem richtigen (teuren) Kajak würde das hier viel mehr Spaß machen. Und hätte ich bloß mehr trainiert im Vorfeld, ach was, überhaupt trainiert, dann würden mich mein Bizeps bis nach Bratislava tragen und Halleluja singen. Und es stimmt ja auch, die geeignete Ausrüstung und Fitness ist hilfreich. Kein Widerspruch.

Was habe ich aber in meinem mentalen Werkzeugkoffer, wenn die beiden vorgenannten just nicht zur Verfügung stehen. Mir fallen sechs ein, die ich näher beschreiben will:

1. Sitzplatz
Das Gute am Fluss ist, dass er im Fluss ist. Soll heißen: ich komme vorwärts, mache Kilometer, ohne dass ich etwas dazu tun muss. Auf vielen Abschnitten kann ich das Paddel ablegen und mich treiben lassen. Ich mache keine Geräusche, bin bewegungslos. Stattdessen schaue ich, lausche und rieche. Besonders gerne lasse ich mich um Kurven treiben. Viele Sichtungen ergeben sich so. Ich sehe eine Nutria am Ufer sitzen, die ihre Pfote leckt. Ein Eisvogel stößt kopfüber ins Wasser und taucht ohne Fisch wieder auf. Ein Fuchs läuft parallel mit mir am Ufer für einige Dutzend Meter. Er bleibt stehen, schaut mich an und lässt mich ziehen.

2. Träumen
Irgendwann sind die Paddelschläge so automatisiert, dass ich nicht mehr nachdenken muss, wie ich was mache. Schlag um Schlag. Die richtige Frequenz, im Zwischenraum zwischen An- und Entspannung. Mein Geist mäandert. Ich erinnere alte Freunde, durchlebe Erlebtes, hänge Gefühlen nach und schmiede Pläne. Ich träume, bin woanders und doch auf dem Fluss. Träumen kommt von allein, kann man nicht erzwingen, aber man kann dafür bereit sein. Dann träumt es sich leichter.

3. Rhythmus
In Rhythmus liegt die Kraft. Das steht im Vordergrund, nicht die angedachten Kilometerzahlen. Wenn ich müde bin, mache ich ein Nickerchen. Wenn ich hungrig bin, esse ich. Um müde und hungrig zu sein, muss ich körperlich arbeiten und wach sein. Klingt so banal, aber den richtigen Rhythmus zu finden kann schwerer sein als gedacht. Was mir hilft: Ich lege kein Ziel fest, wenn irgendwie möglich. Statt ich will von Břeclav bis nach Záhorská Ves paddeln, sage ich mir, ich kann drei Tage auf dem Wasser bleiben. Wie weit ich auch immer komme. Unterwegs bin ich frei, kann machen was ich will.

4. Improvisieren
Der Sitz ist zu tief, als packe ich einen Packsack darauf und sitze höher. Ist die Sitzhaltung perfekt? Nein, aber etwas besser und das ist besser als schlecht. Improvisieren heißt das beste aus der Situation mit den gegebenen Mitteln herauszuholen und gleichzeitig zu akzeptieren, dass es nicht perfekt ist. Ich freue mich über die kleinen Verbesserungen, bin stolz darauf für Probleme Lösungen gefunden zu haben.

5. Innerer Schweinehund
Wie ich finde, gibt es zwei Wege mit dem Inneren Schweinehund zu reden. Man kann sagen: Schnauze halten! Er schweigt dann, aber, so meine Erfahrung, kommt an unerwarteten Zeitpunkten mit doppelter Wucht zurück und es wird viel schwieriger mit ihm zu ringen.
Ihm erst einmal zuzuhören ist die zweite Möglichkeit. Er ist ja nicht per se ein schlechter Kerl. Vielleicht ein wenig negativ, der Gute, aber das er nur Unrecht hätte kann man auch nicht sagen. Ich rede ihm stattdessen ruhig zu: Du hast Recht, das Paddel ist viel zu kurz. Das habe ich wirklich am falschen Ende gespart. Und ja, es hilft auch kein Improvisieren, aber es ist wie es ist. Erinnere mich daran, wenn wir wieder Zuhause sind. Dann können wir das Problem angehen.

6. Goutieren
Goutieren ist mehr als positiv denken und das Glas ist halb voll. Goutieren bedeutet, die Fähigkeit haben, etwas Wertvolles zu erkennen. Auf der March sehe ich einen großen Vogel, der vor mir ins Wasser platscht und dann wieder aufsteigt. Es ist ein Seeadler, ein noch ganz junger, vermutlich im ersten oder zweiten Jahr, weil sein Schwanz noch nicht komplett weiß ist und er noch eine weiße mittlere Binde am Unterflügel hat. Das war offensichtlich ein Jagdversuch, vielleicht zwanzig Meter vor meinem Boot. Wow!
Goutieren ist nichts was Dir passiert. Es gut sich dafür Zeit zu nehmen. Es geht auch nicht um eine rosarote Brille. Na klar, waren die Mücken heute zu bissig und man, der Abschnitt heute Vormittag, da hätte ich auch gleich auf dem Dortmunder-Ems-Kanal fahren können, aber der Seeadler, meine Fresse, hätte mir jemand das vorausgesagt, allein dafür wäre ich die Stecke gefahren.