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Eine tote Wölfin
Anne Wiebelitz-Saillard/ Februar 2023 / Deutschland
An einem kalten Februarsonntag klingelt mein Handy: Martin ruft an. Der hat doch wohl nicht…? Erst gestern habe ich ihn gebeten, wenn er wieder zu einem Wolf gerufen werden sollte, möge er mir Bescheid sagen. Martin arbeitet für das LUPUS Institut für Wolfsmonitoring und -Forschung, das in Sachsen und Süd-Brandenburg die Wölfe erforscht und ihren Bestand überwacht. Als ich ihm den vor ein paar Tagen beim Fährtenlesen gefundenen Wolfsurin zur Laboranalyse vorbeibringe, erwähnt er, dass er gerade das Diensttelefon des Büros hat. Das heisst, dass er angerufen wird, wenn jemand irgendwo in Sachsen einen toten Wolf entdeckt. Das war erst gestern der Fall, unweit der Grenze zu Polen. Und es kommt häufiger vor, als man sich das landläufig so denkt.
So tatsächlich auch heute. Der Wolf soll nicht weit von mir gefunden worden sein, also fahre auch ich los. Wir treffen uns an einem schlammigen Acker in Sichtweite eines sorbischen Dorfes mit Kirchturm. Niemand ist zu sehen. Die Polizei hat eine Weile hier auf uns gewartet, ist aber schon wieder los. Aber wir müssen nicht suchen: Zwei auffliegende Mäusebussarde weisen uns den Weg zu dem Tier.
Auf den ersten Blick wirkt er klein, vielleicht ein Welpe – im letzten Mai geboren – oder Jährling? Warum liegt er hier, mitten in einem Stoppelacker? Und warum ist er so angefressen? Und ist er überhaupt ein „er“?
In den Spuren im Schlamm sind die Abdrücke eines Fuchses zu sehen, der wohl am Wolf genagt hat. Auch seine Losung hat er hier abgesetzt, wie Füchse es gerne in der Nähe ihrer Beute tun. Dem Wolf, der sich als Wölfin herausstellt, fehlt ein Bein und unter seinen Rippen klafft eine große Wunde. Auch das Fell ist teilweise entfernt und der Schädel ist angenagt. Wie lange sie hier schon liegen mag? Das Blut ist noch hellrot und nicht geronnen. Martin macht mich auf eine etwa 10mm große Zecke aufmerksam, die noch festgesaugt ist im Fell der Wölfin: ein Zeichen dafür, dass sie noch nicht lange tot sein kann. Ein Blick auf die Zähne scheint unsere Vermutung, dass das hier noch ein junges Tier ist, zu bestätigen.
In den letzten Wochen war ich so oft es ging auf Wolfsfährten unterwegs. Die günstigen Schneebedingungen zeigten mir, dass regelmäßig Wölfe vor meiner Haustür vorbeigehen. Manchmal hatte ich das Glück, ihren Fährten kilometerweit entgegen ihrer Laufrichtung zu folgen und so mehr über sie zu erfahren – in den Spuren zu lesen, ob sie hungrig oder satt sind, welches Geschlecht sie haben, wie klug sie sich durch die Landschaft bewegen und was sie dabei erleben, macht mich glücklich. Manchmal fühle ich den Verbindungsfaden zu dem Tier, was sich hier vor mir bewegt hat, der durch die Spur sichtbar wird.
Aber immer, wenn ich Fährtenlesen gehe, vermute ich am Ende der Spur ein lebendiges Tier. Das wird mir im Anblick der toten Wölfin klar. Und so wie wir uns mitten im Leben wähnen, kann es jäh enden. Das habe ich schon mehrmals miterlebt, aber in seiner Unmittelbarkeit überrascht mich der Tod doch immer wieder. Auf dem Feld, mit Blick auf die Wölfin, fühle ich Traurigkeit aufsteigen, um das Tier und um das Rudel, zu dem sie nicht mehr zurückkehren wird. Wir wissen von Hunden, dass sie trauern, auch Wölfe tun das. Was ist ein toter Wolf gegen einen toten Menschen, oder gegen den Krieg? Warum schreibe ich nicht über den russischen Krieg in der Ukraine, der mich wie so viele fertig macht, der Freunde trifft, der sich je nach Lesart bald jährt oder schon bald 9 Jahre andauert, und mich immer noch nicht kalt lässt, so wie auch der in Syrien nicht und überhaupt Orte des organisierten Tötens. Aber ich schreibe jetzt über diese tote Wölfin, die ich vor mir sehe, und deren Onkel, Tanten oder Großcousins ich in den letzten Wochen durch ihre Fährten begegnet bin. Sie berührt mich unmittelbar in ihrer Versehrtheit, die wir mit allen lebendigen Wesen teilen.
Martin packt den Leichensack aus. Gemeinsam wuchten wir das Tier hinein, mich überrascht wie schwer sie ist, sicherlich an die 25 Kilo. Wir hieven die Wölfin übers Feld ins Auto, es matscht. Sie wird noch am selben Abend nach Berlin gefahren, wo sie im Institut für Zoo- und Wildtierforschung in den kommenden Tagen obduziert wird. Anhand der Genanalysen und Obduktion wird man herausfinden, wie alt sie war, aus welchem Rudel sie stammte und wahrscheinlich auch, woran sie gestorben ist.
Woran Wölfe in Deutschland sterben, weiß man recht genau: 2022 wurden in Deutschland 145 Wölfe tot aufgefunden – die Hauptursache waren Verkehrsunfälle, in 108 Fällen. 9 wurden illegal getötet, 14 starben eines natürlichen Todes. Um die Zahlen einzuordnen: In Deutschland leben zurzeit 161 Wolfsrudel, 43 Paare und 21 sesshafte Einzeltiere (Wolfsmonitoringbericht 2021-22).
108 tote Wölfe durch Verkehrsunfälle pro Jahr! Wenn ich geführte Wanderungen zum Wolf leite, erzähle ich den Menschen, die daran teilnehmen immer wieder, warum die Verkehrswende (wenn man sie nicht nur auf den richtigen oder falschen Antrieb reduziert) nicht nur helfen würde, bei der Eindämmung der Klimakrise auf Kurs zu kommen, sondern auch zum Schutz des Wolfes und vieler anderer Tiere einen wesentlichen Beitrag leisten kann. Selten sagt jemand etwas dazu. Was auch? Ich lebe selbst auf dem Land und habe ein Auto, was ich so oft es geht gegen ein Fahrrad tausche. Aber dem ÖPNV- und Radweg-Ausbau auf dem Land steht nicht nur mangelnder politischer Wille, sondern auch eine Autofahrermentalität, die ihresgleichen sucht, entgegen: die mitleidigen Blicke, die ich oft ernte, wenn ich mein Kind im Winter im Lastenfahrrad zum Kindergarten bringe, lassen mich manchmal selbst grübeln, ob ich eigentlich noch alle Tassen im Schrank habe. Als Autofahrerin habe ich mir diese Frage selten gestellt: habe ich eigentlich noch alle Tassen im Schrank Auto zu fahren? Oder: hat unser aktueller Verkehrsminister noch alle Tassen im Schrank, weiter munter Autobahnen zu planen?
Als wir gehen, bleiben im matschigen Feld nur unsere Spuren, die Fuchslosung, etwas Blut und ein paar Fellreste zurück. In ein paar Wochen wird hier der Mais oder Raps wachsen.
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