Zwei Tage und Nächte in der Muránska planinaJörn Kaufhold / Slowakei / Dezember 2016 Mit dem letzten Bus vor der Dämmerung komme ich um 15.35 in Muráň an. Hinter dem Dorf liegt die Hochebene von Muráň, die ich die nächsten zwei Tage durchstreifen möchte, um ein Gefühl für die Gegend zu bekommen und dem Winter Hallo zu sagen. Mitte Dezember bleibt mir nicht viel Zeit um rechtzeitig einen Schlafplatz zu finden. Die Sonne geht schon um 15.46 unter. Ich schultere meinen Rucksack und laufe in den nah angrenzenden Wald. Nach anderthalb Kilometern klingelt mein Handy. Meine Frau meldet eine Sturmwarnung. Über mir in den Baumkronen bewegen sich nicht mal die kleinsten Zweige. Es ist nebelig und um die Null Grad. Auf der anderen Seite kann sich das schnell ändern. Tief spanne ich mein Tarp zwischen zwei Buchen und verzurre sorgfältig die Leinen. Erst danach bemerke ich den abgestorbenen Baumstamm in Fallweite, denn ich solange hin und her schaukel bis er umfällt. Wegen der Bären hänge ich meinen Lebensmittelsack weit weg und krieche in den Schlafsack, gespannt wie die Nacht wird. Sie wird ruhig. Es wird wärmer im Laufe der Nacht. Morgens setzt Schneeregen ein, den ich bis acht Uhr abwettere bis die Sonne durch die Wolken blinzelt. „Die Wettervorhersage liegt wie so oft daneben“ denke ich „mal wieder umsonst Sorgen gemacht.“ Mein Frühstück, eine Erbensuppe aus der Tüte, schmeckt so sehr nach Erbse wie rotes Wassereis nach Erdbeere. Zwar wird der Geschmack akzeptabler, je kälter es wird, aber nach jeder Mahlzeit bekomme ich einen widerlichen Durst und das Schlimmste ist: nach einer Weile fange ich an so zu riechen wie das Zeug in den Tüten. Das war´s. Mein erster und letzter Versuch. Kulinarisch wäre die Tour also ein Reinfall, wenn ich nicht das (für mich) optimale Heißgetränk für eine Winterwanderung entdeckt hätte. Hier ist das Rezept: man koche Wasser, bricht nach Belieben hochwertige leicht gesalzene Bitterschokolade rein und schmecke mit gezuckerter Kondensmilch ab, kräftig umrühren - fertig ist der Outdoor-Kakao. Der wirkt auf mich wie Raketentreibstoff. Meine erste Pause mache in den Ruinen der Höhenburg Muráň auf dem 935 Meter hohen Berg Cigánka. Von einer Aussichtplattform schaue ich weit in den Süden des Landes. Noch ist es nicht entschieden, ob es schneit oder nicht. Die Berge buckeln dunkelbraun bis zum Horizont. In den Tälern schweben Nebelschleier, die von vereinzelten Sonnenstrahlen wie von innen erleuchtet werden. Der Berg Cigánka (Zigeunerin) heißt so, weil sich einst ein Hauptmann der Burg er Legende nach eine schöne Zigeunerin zur Frau genommen hat. Als er nach dem Kriege nach Hause kam und feststellte, dass sie ihm nicht treu gewesen war, schleifte er sie auf den höchsten Turm der Burg und stieß sie in den Abgrund. Mich interessiert: Was ist aus dem Hauptmann geworden? Die Legende berichtet nichts darüber. Wurde er wegen seines Verbrechens von der Obrigkeit bestraft? Wäre die Legende entstanden, wenn die Zigeunerin den Hauptmann in den Abgrund gestoßen hätte? Was denken die Roma, die ein paar Hundert Meter unten im Dorf leben darüber? Ohne Antworten ziehe ich weiter, zuerst auf dem blauen Weg bis zur Velká lúka, dann den roten Weg bis zur Quelle Studňa na Muránskej planinej. Unterwegs werden die Wolken dunkelblau und der Wind pikst mir Schneeflocken ins Gesicht. Ich fülle meine Wasserflasche im Schneegestöber. Weit und breit gibt es keine weiteren Quellen, weil das Karstgestein der Muránska planina das Wasser nicht hält und es versickert. Das weiche Gestein wurde dabei im Laufe der Zeiten zu tief eingeschnittenen Schluchten und skurrilen Felsformationen geformt. Nach einigen Hundert Metern weiter hat es keinen Zweck mehr. Zwischen Fichten hänge ich mein Tarp auf, den Eingang vor einem breiten Baumstamm und die tiefe Seite in den Wind. In wenigen Minuten ist mein Tarp vom Graupelschnee verweht. Der Sturm ist da, die Wettervorhersage hat sich nur um einen Tag vertan. Mit allen Sachen an, die ich dabei habe, sitze ich dichtgedrängt am Lagerfeuer und löffle meine 800 ml Gulaschsuppe möglichst heiß. Und obwohl ich nur drei vier Stunden Fußmarsch vom Dorf entfernt bin, blicke ich mit Respekt auf Böen, die Fichten beugen und Schnee zu einer weißen Wand verwirbeln. Ich habe kein Handyempfang, will aber meine Schwägerin unbedingt noch zum Geburtstag gratulieren. Dafür müsste ich 100 Meter den Weg zurück laufen. Allerdings beunruhigt mich der Gedanken, nicht mehr zu Tarp und Schlafsack zurück zu finden. An meinen Fußspuren kann ich mich nicht orientieren, die sind ruck zuck weg. Ich erinnere mich an all die Geschichten, die ich gehört oder gelesen habe, wo ein Trapper seine Hütte zum Pinkeln verlässt, im Kreis läuft und später erfroren im Schnee gefunden wird, nur zwanzig Meter von der Hütte entfernt. Um sicher zu sein, dass ich den Weg zurückfinde, schmeiße ich einen großen Haufen Reisig aufs Feuer, damit es weit sichtbar auflodert und halte mich sehr knapp mit den Glückwünschen. Morgens hat sich der Wind gelegt. Es ist knackig kalt. Immerhin habe ich auf 1.200 Meter übernachtet. Ich wüsste gern, wie tief das Thermometer in der Nacht gefallen ist. Allzu tief kann es nicht sein, denn die Feuchtigkeit meiner Atemluft gefriert nicht im Bart. Und schon mit wenigen Minuten Laufen vertreibe ich die Morgenkälte aus meinen Gliedern. Die ersten Sonnenstrahlen wärmen mein Gemüt und lasse den Neuschnee funkeln. Auf der Wiese Nižná Kľaková will ich Wasser finden. Was mir nicht gelingen will, trotz in der Karte eingezeichneten Quelle und Wegweiser. Eigentlich wollte ich den grünen Weg weiter, aber da werde ich unterwegs kein Wasser finden. Also muss ich, obwohl ich nicht recht will, den gelben Weg nehmen, der durchs Hrdzova Tal führt. Dadurch wird meine Wanderung kürzer. Ich grummle mit mir selbst, während ich absteige. Fühle mich so, als hätte ich etwas nicht geschafft, mir selbst die Tour versaut. So laufe ich eine Zeit stur und missmutig vor mir her, bis ich wütend auf mich werde, weil ich sauer bin. „Spinnst du?“, beschimpfe ich mich selbst. „Das Ganze ist doch kein Leistungswettbewerb. Du musst doch nicht auf Teufel komm raus von A nach B kommen. Das Ganze ist mehr wie ein Tanz, in dem du auf das reagierst, was gerade auf dich zukommt.“ Und in der Tat bringt mich der Gedanke wieder in die rechte Stimmung, in der ich wieder nach rechts und links schauen kann. Einige Meter weiter finde ich frische Trittsiegel von einem Braunbären. Deutlich zeichnen sich die Zehen und Krallen ab. Begeistert folge ich der Fährte. Er oder sie geht gemächlich runter zum Bach, läuft durchs Wasser und schüttelt sich auf der anderen Uferseite. Das Ganze sieht aus wie ein paar Stunden alt. Ich folge der Fährte steil hangaufwärts bis von rechts eine weitere Bärenfährte kreuzt. Sie ist ungefähr gleichgroß und gleichalt und ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob sie von ein und demselben Bär stammt oder ob es zwei Tiere sind. Ist hier ein Geschwisterpaar unterwegs oder ein einzelner Braunbär, der in der Gegend umher kreist? Ich merke, dass ich fremd in der Muránska planina bin, weil ich nicht mal eine Ahnung habe, wohin es den oder die Braunbären zu dieser Jahreszeit ziehen könnte. Da es bereits dämmert, verlasse ich die Fährte und laufe das Tal weiter hinab, beschwingt und dankbar, weil ich einen kurzen Ausblick in ein anderes Leben nehmen durfte. Weiter unten wird das Tal fast zu einer Schlucht, die Bäume sind mit dickem dunkelgrünem Moos gepolstert und es wachsen eine Menge Hirschzungen, die ich mir gerne näher anschauen würde, bleibe jedoch wegen der einbrechenden Dunkelheit auf dem Weg . In Muráň erwische ich um 17.30 Uhr den letzten Bus nach Bánska Býstrica.
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