Wildniswanderung in der Stadt

 

Anne Wiebelitz / Deutschland / Mai 2017

Eine halbe Stunde bevor ich loslaufen will, hagelt es aus dem Himmel mit allen Kräften zarte Eiskügelchen. „Wer sich an solchen Tagen nach draußen begibt, weiß warum.“ Ich bin für eine Wanderung auf den Dresdner Hufewiesen mit einem Verein verabredet, der sich für den Erhalt der Wiesen als Freifläche inmitten der dicht bebauten Stadt einsetzt – für Zaunkönig, alte Obstbäume und Brombeerhecken für alle statt teures Bauland für wenige. Vor einigen Wochen kam die Anfrage, ob ich mit ihnen eine Führung über die Bäume und Vögel der Wiesen, auf denen auch ein Wald heranwächst, machen kann. Ich rate ihnen zu Biologen und klassischen Naturführern, sage, dass ich keine Wiesenexpertin bin und mit ihnen die Landschaft eher intuitiv und über ein paar Geschichten entdecken kann. Wenn sie wollen. Wollen sie, und so sitzen wir an diesem späten Aprilsonntag zwischen Schauern und Sonnenschein auf den Wiesen.
Ich habe ein paar Jahre gebraucht, bis ich anderen erklären konnte, was das eigentlich ist, die Wildnispädagogik, was ich da draußen „vermitteln“ kann. Lange dachte ich, ich wüsste zu wenig, um mit anderen Menschen in die Natur zu gehen. Mehr und mehr spüre ich (wissen tu ich es schon längst), das es nicht wichtig ist, ob ich die Baumarten genau benennen kann oder den Namen des Vogels sage, wenn er ruft. Das genau das andere davon abhalten kann, ihren eigenen Zugang zu den Lebewesen da draußen zu finden. (Ich wandere trotzdem einige Tage vorher über die Wiesen, um die wichtigsten Bäume erkennen zu können, um „gewappnet“ zu sein, wofür eigentlich?)

Wir gehen, lachen, erzählen, lauschen, das Wetter hält fast trocken, ich stelle Fragen, auf manche weiß ich selbst die Antwort nicht, die anderen tun es auch: „wie lange steht diese Birke schon hier?“, „Wie ist sie hierher gekommen und warum wächst sie gerade hier?“ Über manche Antworten denken wir laut gemeinsam nach. Ich merke mal wieder, wie gern Menschen Geschichten hören: dass man die frischen Ahornblätter essen kann, welche Heilkräfte im Holunder stecken und das Schäfer aus seinen Ästen Flöten geschnitzt haben, welche Verbindung es zwischen der Frau Holle und dem Hollerbusch gibt, wie die Amsel mich auf einen Spaziergänger aufmerksam macht, bevor ich diesen sehen kann, wie dazu kam, dass sich der Kleiber auf meine Hand setzte...

Einige Meter vor der intensiv nach Flieder durftenden Traubenkirsche, deren Blüten wie Trauben herabhängen, ist sich eine Frau so sicher, sie wäre ein Faulbaum, bis sie näher herantritt und sich den Baum nahe und lange anschaut und den Duft in ihre Nase lässt. Davor entdecken wir einen Bau, vielleicht ein Fuchsbau? Alles passiert gleichzeitig und unvorhersehbar, manchmal passiert gar nichts. Manche sagen, sie hätten hier schon einen Fuchs gesehen, ob er gerade jetzt hier unten ruht? Ein grauer Vogel mit schwarzer Kappe und wild-fröhlichem Gesang sitzt weit oben im Baum, wir freuen uns über diesen Sommergast auf den Wiesen und rätseln darüber, warum Vögel eigentlich singen oder rufen? Um ihr Revier zu zeigen. Um eine Partnerin zu finden. Um vor Feinden zu warnen, z.b. vor einem Fuchs, der über den Boden schleicht oder einem Waldkauz, der tagsüber schläfrig auf einem Baum sitzt. Um gefüttert zu werden. Um ihre Dankbarkeit zu zeigen. Um den Tag zu begrüßen und zu verabschieden („stimmt, Vögel singen am meisten frühmorgens und spätabends!“) Um Kontakt aufzunehmen, um ihrem Partner zu sagen „Ich bin hier!“ „Wo bist du?“ „Ich bin da!“ „Bist du dort?“. Wir versuchen am Ende mithilfe von Tonaufnahmen einige der häufigsten Vögel auf den Wiesen an ihrem Gesang wiederzuerkennen: das Rotkehlchen, die Elster, den Zaunkönig, den Buchfink, den Eichelhäher, … so viel Leben auf so einer kleinen Fläche Wildnis in der Stadt.