Wilde Wisente im WaldJörn Kaufhold / Slowakei / Oktober 2018 Schon lange sehne ich mich danach, freilebende Wisente zu beobachten und ihre Fährten und Zeichen zu lesen. Deswegen habe ich mich im Mai dieses Jahres auf den Weg gen Osten gemacht, denn im Dreiländereck Slowakei – Polen – Ukraine streifen wieder mehr als 600 Tiere durch die karpatischen Bergwälder. 600 Wisente, denke ich mir, da müsste ich doch mindestens einige davon finden. Meine Zuversicht schwindet allerdings, als ich den riesigen Umrissen der Wälder mit meinem Finger auf der Landkarte folge. In der letzten Stunde auf der Landstraße kommen mir keine anderen Autos mehr entgegen, die EU-Außengrenze ist nicht mehr fern. Ich suche mir einen abgelegenen Holzverladeplatz, parke und eile in der Dämmerung in den Wald, um mein Tarp aufzubauen. Am nächsten Tag, so der Plan, will ich in den Nationalpark Poloniny bewandern, in der Hoffnung, Wisente in der Dämmerung beim Grasen zu beobachten zu können. Tag 1 beginnt mit gutem Wetter und den ersten Wisent-Trittsiegeln auf dem Waldweg, die ob ihrer schieren Größe schwer mit einem anderen Tier zu verwechseln sind. Sie scheinen einige Tage alt zu sein, jedoch zu alt, um ihnen zu folgen. Aber immerhin ein guter Start. Ich will zu den großen Wiesenflächen, die im Westteil des Nationalparks liegen und denen man immer noch gut ansehen kann, dass sie einmal zu Dörfern gehörten. Mehrere Dörfer wurden in den achtziger Jahren ausgesiedelt, um den Stausee Starina anzulegen. Bis auf die Friedhöfe wurde alles abgetragen. Weil grasende Wisente in der Vergangenheit immer wieder Grabsteine umgestoßen haben, wurden die Friedhöfe vor einigen Jahren eingezäunt. Ich streune umher, finde Losungen, Trittsiegel und einige Fraßstellen, aber alle einige Wochen alt. Am späten Nachmittag beziehe ich einen Jagdsitz und beobachte über zwei Stunden einen Rotfuchs, der unermüdlich einen Mäusesprung nach dem anderen zeigt. Von Wisenten ist jedoch weit und breit nichts zu sehen. Tag 2 startet ebenfalls mit einem langen Ansitz. Das Morgenlicht ist butterfarben und im Fernglas habe ich ein Braunkehlchen, das immer wieder einen Grashalm als Sitzwarte anfliegt. Tagsüber streife ich umher und komme ins Grübeln – alle Spuren sind mehrere Wochen alt. Die Wisente können auf einer anderen Wiese oder in einem ganz anderen Teil des Nationalparks sein. Ich versuche mich in sie hineinzuversetzen – wo würde ich mich als Wisent gerne aufhalten? Kollege, wo bist du? Tag 3 mache ich im Ostteil des Parks eine zehn Kilometer lange Wanderung. Ich will schauen, ob ich Spuren von Wisenten finden werde. Ich finde gar nichts, aber ich bin nicht frustriert, weil mich ein alter Pfad an drei wunderschönen, typisch karpatischen Holzkirchen vorbeiführt und die Sonne scheint und der Himmel blau ist. Tag 4 braucht also wieder eine neue Strategie, denke ich am Abend des dritten Tages. Die frischesten Spuren hatte ich am Rand des Nationalparks. Deswegen begebe ich mich genau dorthin und biwakiere im Wald. In der Nacht schüttet es wie aus Eimern, gegen vier Uhr hört es auf. Morgens mümmle ich gerade an meinem Käsebrot, als im Nordosten einige Wölfe anfangen zu heulen. Das sind meine ersten „slowakischen“ Wölfe, die ich heulen höre. Wie kann ein Tag beschwingter anfangen? Ha! Schon dafür haben sich die Tage gelohnt. Meinen Rucksack verstecke ich im Gebüsch, streune etwas umher und finde schon nach wenigen Minuten eine frische Wisent-Fährte, in der keine Abdrücke von Wassertropfen zu sehen sind. Die Trittsiegel sind also nach vier Uhr entstanden, damit nur wenige Stunden alt. Das ist die Fährte, von der ich die letzten vier Tage geträumt habe! Ich laufe der Fährte entgegen, weil ich sehen will, woher der Wisent gekommen ist und um ein Gefühl für das Tier zu bekommen. Die erste große Überraschung: das massive Tier schlüpft erstaunlich filigran durchs Unterholz. Als ich merke, dass ich eine Verbindung mit der Fährte aufgenommen habe, drehe ich um und folge ihr. Schon nach einigen Dutzend Metern stoße ich auf eine junge Buche, die der Wisent ordentlich bearbeitet hat. Ich muss grinsen, denn das ergibt eine Alliteration: „Büffel im Buchenwald“. Die Rinde ist noch feucht, allzu weit kann er nicht sein. Bewusst langsam gehe ich weiter, ersteige eine kleine Anhöhe und sichte eine Ricke, die auf mich zugeht. Ich friere ein, sie frisst vereinzelt Knospen im hohen Unterwuchs. Sie ist eine alte Dame mit Senkrücken und Hängebauch. Eigentlich will ich weiter, aber es gehört sich nicht, sie aufzuschrecken. Ich bin schließlich gut erzogen, also kauere ich mich hin und schaue ihr eine halbe Stunde zu. Mittlerweile fängt es an zu regnen und ich mache mir mehr und mehr Sorgen wegen der Fährte. Als sie schließlich abgezogen ist, regnet es schon kräftiger und die Fährte führt zu einem Liegeplatz, fast vier Meter im Durchmesser und erstaunlich rechteckig. Alles überaus deutlich sichtbar, aber dahinter ist die Fährte nicht mehr sichtbar. Ich suche und suche, laufe alle möglichen Wegachsen ab und zirkle in verschiedenen Abständen. Nach anderthalb Stunden ist mir von der ganzen Schufterei schlecht. Ich setze mich auf den Boden, schließe die Augen und lasse die Fährte los. Es hat keinen Zweck mehr. Es zieht mich trotzdem in eine Richtung, warum also nicht einfach diesem Gefühl folgen? Ich vermute, dass weiter oben eine Freifläche kommt, zu der Kollege Wisent gezogen sein könnte. Aber es kommt nur Buchenwald, ein übrigens prachtvoller alter Buchenwald mit dickbäuchigen Stämmen und einer hohen Laubkuppel. „Büffel im Buchenwald“, singt es einem Ohrwurm gleich in meinem Kopf. Wo würde ich als Wisent hingehen? Jetzt zu dieser Jahreszeit? In diesem Buchenwald sind Wechsel, auf denen Wisente unterwegs waren, aber sie sind zu alt. Meine Gedanken drehen sich im Kreis: Büffel im Buchenwald … Büffel im Buchenwald … Wohin würde ich gehen? … Büffel im Buchenwald … und dann ist mir auf einmal alles klar! Die letzten vier Tage war ich wie der Betrunkene in dem Witz, der nur im Lichtkegel einer Straßenlaterne nach seinem verlorenen Schlüssel sucht. Ich war so fixiert auf die Idee, dass die Wisente zum Grasen auf die Wiesen rauskommen, dass ich das Muster gar nicht wahrgenommen habe. Alle frischen Zeichen waren weder im alten Buchenwald, noch auf der Wiese, sondern im Unterholz reichen Jungwald. Im frühen Frühjahr nach einem langen Winter macht es Sinn, dass die Wisente auf die frisch grünenden Wiesen strömen, aber jetzt gibt es jede Menge Futter im Jungwald und dazu Schutz, den sie auf Freiflächen deutlich weniger haben. Ich weiß jetzt, wohin ich gehen muss: zurück in den Jungwald! Und das mache ich auch. Ich streife eine Weile umher, bis ich glaube, über mir junge Spechte zu hören, die lauthalsbetteln. Ich bleibe stehen und halte Ausschau nach der Höhle. 15 Meter von mir entfernt, springt, für mich komplett unerwartet, hinter einem Gebüsch ein Wisent auf. Er bricht seitlich weg und sein Körper zeichnet einen scharfen Schattenriss ins Gegenlicht. Ich sehe seine Hörner, seinen bulligen Nacken und ein Pinsel unter dem Bauch zeigt mir, dass es ein Bulle ist. Einige wenige Sprünge und schon ist er wieder verschwunden. Es ist mir, als hätte ich den Waldgeist persönlich aufgescheucht. Ich lege meine Hand auf den Liegeplatz und nehme seine Körperwärme auf. Mein Jagdfieber sagt mir: hinterher, die Fährte ist noch frisch! Aber gleichzeitig weiß ich, dass es gut ist, die letzten vier Tage sind rund. All die Fährten haben mich hierhin geführt. „Ruiniere es jetzt nicht“. So drehe ich mich also um und laufe zurück zu meinem Auto. Ich komme an einigen Scheuerbäumen und einer großen Fläche ohne Bewuchs vorbei, einem Staubbad für Wisente. Den Rest des Nachmittages liege ich auf einer Wiese, in der sich auch einige Rebhühner tummeln und munter „Pickdewick“ rufen. Morgen bin ich mit einem Ranger verabredet. Am Tag 5 steigt Tomaš, ein Ranger des Nationalparks, in meinen Wagen mit GPS-Koordinaten von polnischen Wisenten, die sich momentan auf slowakischer Seite aufhalten. Er klärt mich auf, dass wir in einem belaubten Wald kaum Chancen hätten, Wisente zu sehen. Ich sollte es am besten im Winter noch einmal versuchen. Mir geht es eher darum, mit ihm ins Gespräch zu kommen und mehr über Wisente zu erfahren. Wie sich jedoch rausstellen wird, werden wir in den nächsten Stunden keine Zeit zum Quatschen haben. Wir parken unterhalb eines bewaldeten Kamms, auf der anderen Seite sollen Wisente stehen, so zumindest die Koordinaten von fünf Uhr morgens. Tomaš übernimmt die Führung und wir steigen zügig auf, achten aber sehr darauf, worauf wir treten. Oben schleichen wir in einen sehr jungen Wald, bestanden mit Buchen und Ahornen. Es gibt einige Lichtungen, die ersten Trittsiegel sind so frisch, wie es nur geht. Tomaš verharrt plötzlich, weil er ein Schnauben hört. Im Unterholz, rund zwanzig Meter von uns entfernt, steht ein Wisent. Ich schließe zu ihm auf, kauernd lauschen wir andächtig seinem Mampfen, das erstaunlich laut ist. Tomaš flüstert mir ins Ohr, dass ich jetzt die Führung übernehmen kann. Ich entschließe mich dazu, einen großen Rechtsbogen zu schlagen, um einen besseren Blick zu bekommen. Der Wind steht günstig. Jetzt bloß keine Wisente aufscheuchen. Adrenalin pocht in meinen Ohren. Langsam, langsam, Schritt für Schritt arbeite ich mich vor. Nach zwanzig, dreißig Metern erreichen wir eine dichte Ansammlung von jungen Ahornen, vor der wir uns hinkauern. Der Wind steht weiterhin günstig. Unsere Sichtachse ist besser, wenn auch nicht ideal. Zehn Meter entfernt wackelt ein junger Ahorn. Ich linse durchs Unterholz, eine Wisentkuh kommt einige Schritte auf mich zu, senkt den Kopf, rupft Gras raus. Ich kann hören, wie ihre Zähne mahlen. Der andere Wisent reißt an einem Ast. Weiter rechts von uns kommen weitere Wisente an. Alle sind unglaublich laut, ich bilde mir ein, sogar das Kollern ihrer Mägen zu hören. Sie erscheinen mir nicht als besonders achtsam, was auch Sinn macht, denke ich mir. Im Gegensatz zu Hirschen, die eigentlich nur eine nennenswerte Feindstrategie haben – nämlich Flucht -, haben Wisente zwei Möglichkeiten: Flucht oder Angriff. Wir sitzen dort eine Ewigkeit, ich wage nicht auf die Uhr zu schauen. Über der Lichtung liegt eine ruhige, friedliche Atmosphäre. Rupfen, mampfen, Äste abreißen, einige Schritte gehen, kauen. Die Wisentkuh direkt vor uns hat die Augen beim Essen halb geschlossen, wie in Trance. Wir hören weitere Schritte. Ein Wisentkalb drängt sich an die Wisentkuh, beugt seinen Kopf mit den noch kleinen Hörnern und saugt bei seiner Mutter Milch, keine zehn Meter von uns entfernt. Ich schaue Tomaš an und vermute, dass auch ich den gleichen verzückten Ausdruck im Gesicht trage. Nach einer kurzen langen Weile spüre ich einen zarten Windhauch auf meinem verschwitzten Nacken. Die halbgeschlossenen Augen der Wisentkuh öffnen sich jetzt ganz. In ihren Augen liegt kein Erkennen, sie sieht uns nicht, ist aber irritiert. Ein, zweimal bläht sie weit ihre Nasenöffnungen, dann ist die Entscheidung da. Sie dreht sich um und trabt langsam davon, die anderen Wisente folgen ihr. Die Herde verschwindet in die Richtung, aus der der Wind so günstig geweht hat und wieder weht.
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