Hirschfraß
 

Auf der Fährte eines Rothirsches

Jörn Kaufhold / Frühling 2020 / Slowakei

Ich sehe seine Hinterbeine. Er steht in einer Dickung aus jungen Buchen und Haselnusssträuchern. Erkennen kann ich Teile seines Hinterteils, Mosaiksteinchen von Rücken und Brust und gar nichts von seinem Kopf. Ich verharre und so stehen wir beide unbeweglich.

Eine Stunde zuvor war ich in eine Gruppe von Wildschweinen reingeraten. Zwei Bachen mit ihren Frischlingen, die ich noch mit beiden Händen hätte umfassen können. Am Vormittag hatte es lange und ausgiebig geregnet, deshalb ist der Boden weich und das Laub leise.

Der Rothirsch bewegt sich und für eine kurze Weile kann ich sein Haupt zwischen den Bäumen im Licht-Schatten-Gewirr ausmachen. Zwei noch junge Geweihstangen, die vom Bast umschlossen sind, prangen auf seiner Stirn. Und wie es aussieht und sich anhört (ich vernehme keine weiteren Bewegungen) ist er alleine unterwegs. Er macht zwei, drei Schritte, dann höre und sehe ich nichts mehr. Ich warte eine Weile. Ist er noch in der Dickung oder lautlos weggeschlichen?

Sehr, sehr langsam gehe ich vorwärts. Bei meinem vierten Schritt springt der Hirsch auf, bricht aber nicht, wie ich es erwartet hätte, mit Gewalt durchs Unterholz, sondern stoppt wieder nach zwei Sprüngen. Damit sind wir wieder zurück in unserer Ausgangsstellung: beide bewegungslos.

Ich bin mir sicher, dass er zwar etwas gehört hatte, was ihn beunruhigte und ihn zum Aufspringen zwang, aber dass er es nicht mit mir, einem Menschen, verband. Wir stehen wieder eine Weile. Buchfinken trällern, eine Amsel fliegt vorbei, sein Geruch weht herüber. Das ist jetzt ein Geduldspiel, wer sich zuerst bewegt, der verrät sich.

Ich lausche, halte meine Aufmerksamkeit und verscheuche Gedanken, die mich auffordern vorsichtig weiter zu schleichen. Natürlich juckt es mich irgendwo und will gekratzt werden. Und natürlich kommen die obligatorischen Zweifel: Er ist weg, er ist schon weitergegangen. Ich bleibe stehen und soweit ich das hören konnte, tut er das auch. Seine Aufmerksamkeit zielt in meine Richtung. Ich sehe ihn nicht, bin mir aber sicher, dass seine Ohren bergab, auf mich, gerichtet sind.

Er geht weiter, zwei kleine Schritte. Ich atme einmal kräftig durch. Er verharrt wieder. Das ist ein Köder an mich, den potenziellen Beutegreifer. Na, kommt da was nach? Wieder stehen wir, spielen, wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Ich weiß mit jeder Minute, die ich aushalte, werden meine Chancen größer, dass er von dannen zieht, ohne mich zuordnen zu können. Die Sonne steht sehr tief, aber das Licht wird noch eine geraume Weile stark genug sein.

Er zieht weiter. Einige Schritte, dann lauschen, weitere Schritte und dann unerwartet ein gewaltiges Bellen oder wie die Jäger sagen: Schrecken. Eine lautstarke Mischung aus Rülpsen und Bellen. Und dann noch einmal. Er ist hörbar sauer und schreit raus, dass das etwas ist, was ihm nicht gefällt. Ich nehme das als Kompliment, denn hätte er mich als Menschen erkannt, wäre er vermutlich still geflüchtet.
Wieder muss ich mich zügeln, natürlich will ich mir sofort seine Fährte anschauen, ihm folgen. Aber das wäre zu früh, ich muss wieder warten, jetzt zum dritten Mal. Ich setze mich hin und lasse meine Gedanken umherschweifen. Als ich sicher bin, dass er mich nicht mehr wahrnehmen kann, stehe ich auf und schlüpfe in die Dickung und finde überraschenderweise seine Liegefläche.

Er war so sorgenlos, dass er sich hingelegt hatte. Jetzt ist er fort und ich kann seine Fährte aufnehmen. Ich sehe einige dunkle Flecken Erde im rotbraunen Laub. Da er die ersten Schritte gesprungen war, leuchten die Verletzungen im Boden wie Signalraketen auf. Ich entscheide mich ihm zu folgen und zu schauen, ob ich ihn nicht wiederfände. Vielleicht kann mir seine Fährte erzählen, wohin er geht und was er nun vorhat.

Deutlich lese ich in seinen Trittsiegeln, dass er immer wieder seinen Oberkörper nach rechts rausstellt. Die Schalenabdrücke seines rechten Vorderbeins zeigen fast bergab. Das macht er ein paar Mal, er schaut über seine rechte Schulter, ob jemand hinter ihm her ist. Nach einigen Dutzend Metern hört sein Stop and Go auf, seine Schritte werden flüssiger. Geschickt überquert er eine Blockhalde und fädelt sich auf einen Wechsel ein, der den steilen Hang aufwärts führt.

Da gilt es für mich vorsichtig zu sein. Gut möglich, dass er hinter der ersten Anhöhe steht, um zu lauschen, ob jemand folgt. Hörte er mich, würde er Kilometer um Kilometer flüchten und ich würde in seiner Fährte nichts lesen können, außer Angst und den Wunsch weit entfernt zu sein. So setze ich mich wieder hin und warte, zum vierten Mal an diesem Abend. Ich lausche vor allem den Vögeln. Würde ich Alarmrufe hören, wäre er unter Umständen noch in der Nähe. Ich höre Gesänge und zu meiner Freude das etwas atemlos „Jiepen“ eines Halsbandschnäppers. Alle Bodenvögel sind entspannt, was mich ebenfalls entspannt.

Die Fährte führte weiter bergauf und tatsächlich kann ich auf der nächsten Anhöhe lesen, dass er nach unten geschaut hat. Zum letzten Mal wie sich später rausstellen soll. Er geht weiter bergauf und nach zweihundert Metern biegt er rechts ab, um einen Wechsel zu folgen, der auf einer Höhe verläuft. Das ist angenehm zu laufen, für ihn, wie für mich. Ich muss nur aufpassen, dass ich keine Abzweigung verpasse. So kann ich zügig gehen und den Abstand zwischen ihm und mir verkürzen.

Als sich vor mir der Wald lichtet, verlangsame ich meine Schritte. Vor mir liegt ein siebzig Meter breiter Geländestreifen, der vor einem Jahrzehnt geschlagen wurde. Zwischen blanker Erde und Steinblöcken wachsen Brombeeren und vereinzelt einige stark verbissene hüfthohe Buchen. Ich stoppe und verharre zum fünften Mal. Wieder gut möglich, dass er dort irgendwo steht und die Lage sondiert. Ich prüfe den Wind – er weht bergab – und schaue nach Bewegungen, die ich nicht finde. So gehe ich weiter.

In der Schlagflur wird es schwierig mit dem Spurenlesen. Der Boden ist steinig und trocken. Keine dunklen Flecken. Ich folge einem Wechsel bis zur ersten Kreuzung. Welchen Weg hat er genommen, schräg bergauf oder bergab? Oberhalb von mir in etwa zehn Meter Entfernung sehe ich zwei daumengroße Steine, die dunkler schimmern, als die anderen. Ich nehme an, dass der Rothirsch sie beim Auftreten umdrehte. Ich folge also dieser Abzweigung bis zur nächsten Kreuzung, die dreiteilig ist.

Ein Weg führt steil bergauf, da ist nichts zu sehen, obwohl einige Stellen blanker Erde die Trittsiegel eingefangen hätten. Die nächste Abzweigung führt rechts auf gleicher Höhe den Hang entlang und die dritte Abzweigung endete schon nach einigen Meter in einem Gebüsch aus Brombeeren und jungen Buchen. Die logische Route ist der Hangweg. Ich folge ihr für ein Dutzend Meter und sehe nichts. Was mich nicht weiter verwundert, der Boden ist einfach zu hart. Als ich auf der anderen Seite wieder den Wald erreiche, entdecke ich allerdings auch keine Spuren in dem nun weicheren Waldboden. Also muss ich zurück zu dem letzten sicheren Zeichen.

Ich checkte die Abzweigung, die in dem Gebüsch endete. Kaum vorstellbar, dass sich da ein ausgewachsener Hirsch durchgezwängt haben könnte. Langsam wird mir klar, dass ich wieder in eine typische Denkfalle getappt bin. Ich dachte, dass er den bequemeren Weg nehmen würde, weil mir das logisch erschien, weil ich das gemacht hätte, weil ich insgeheim ein Ziel im Kopf hatte, von dem ich glaubte, dass er es ansteuern würde.

Also noch mal das Gebüsch anschauen! Das Dickicht sieht aus, wie ein Dickicht so aussieht. Keine gebrochenen Ästchen, keine Hirschhaare, die vielleicht an einer Brombeerranke hängengeblieben sind. Ich überprüfe noch einmal die beiden anderen Abzweigungen. Da sind zwar eine Menge Trittsiegel von Rothirschen, aber alle alt, nichts Frisches. Die Hirsche scheinen sich hier oft aufzuhalten. Ein idealer Ruheort, wie ich finde. Ab Mittag können sie dort in der Sonne liegen und sicher sein, dass sie von weither Wolf, Luchs oder Mensch hören können. Vielleicht ist das sogar ein Einstand, in dem sie sich Ende des Winters gerne aufhalten. Hier könnten abgeworfene Geweihe liegen, geht es mir durch den Kopf.

Ich muss mich entscheiden: Geweihe suchen oder dem Hirsch folgen. Ich entscheide mich für die Fährte und setze mich wieder auf die Kreuzung. Eine Möglichkeit wäre, weit zu zirkeln, also die komplette Schlagflur umlaufen, um zu schauen, wo die Fährte wieder raus führt. Aber das würde lange dauern, vermutlich wäre es dunkel, bevor ich fertig werden würde. So viel Zeit habe ich nicht, so krieche ich in das Gebüsch hinein. Den Kopf auf Kniehöhe, den Boden absuchend. Ich finde nichts, aber in der dritten Reihe bemerkte ich einen Zweig, der in unnatürlicher Haltung eingeklemmt ist. Als ich ihn berühre, schwingt er wieder in seine Ausgangsstellung zurück. Das nehme ich als Zeichen!

Und in der Tat hatte sich der Hirsch sanft aber zielstrebig durch das ein Dutzend Meter große Gebüsch gedrückt. Ich bin wie elektrisiert, weil ich etwas sehe, was ich vorher nicht sehen konnte: Zweige in veränderter Stellung! Ich sehe vor meinem inneren Auge, wie der Hirsch sie mit seinem Körper in Laufrichtung drückt und sie wieder zurückschnellen, einige von ihnen in die vorherige Ausgangsstellung, einige blieben jedoch hängen, zum Beispiel am Stamm oder an einem Ast vom Nachbarbaum. Jetzt sehe ich das plötzlich deutlich wie Wegweiser.

Hinter dem Gebüsch führt ein wenig frequentierter Wechsel in den Wald und dort tauchen die ersten Trittsiegel wieder auf. Ich schnuppere an ihnen und sie riechen kräftig und würzig. Ich bin also noch auf seiner Fährte. Der nächste Kilometer ist ein Traum. In regelmäßigen Abständen blinken seine Zeichen auf: Frische krümelige Erde oder scharfe Abdrücke seiner Schalen oder deutliche Dellen im Laub. Jedes Zeichen versetzt mir einen kleinen Dopaminstoß. Ich bin auf seiner Fährte und höre auf Verletzungen im Boden wahrzunehmen, sondern ich sehe vor meinem geistigen Auge, wie er sich durch den Wald bewegt. Er knabbert an einigen jungen Ahornblättern, springt über einen halb verrotteten Baumstamm und dann steuert er auf eine Wiese zu.

Dort oben auf der Wiese könnte er stehen.

Jagdfieber pulsiert in mir auf. Jetzt bloß nicht hastig werden, ermahne ich mich mehrmals. Das wäre nicht das erste Mal, dass ich es auf den letzten Meter versauen würde. Von unten schiebe ich langsam meinen Kopf über die Wiesenkante und direkt vor mir stehen zwei Hirsche. Ein alter mit halb herausgeschobenem Geweih und ein Junger. Und dahinter stehen weitere Hirsche und weit hinten, kann ich „meinen“ Rothirsch ausmachen. Er graste in Ruhe zusammen mit seinen Kollegen.

Ich stehe dort und beobachte die Hirsche, wie sie im Gleichklang grasen und im Gleichklang die Köpfe heben, wenn ein Vogel Alarm schlägt. Einmal hebt ein alter Hirsch sein Vorderbein und schlägt nach einem jüngeren Hirsch aus. Mit meinem Handy mache ich einige Fotos. Ich war mir sicher, dass es spektakuläre Aufnahmen wären. Zu Hause war ich arg enttäuscht, als ich die verschwommenen braunen Flecken sah, die die Hirsche sein müssten.

Die Dunkelheit flutet heran. Zeit den Heimweg anzutreten. Ich schleiche mich weg und kurz bevor ich hinter dem nächsten Hang verschwinde, drehe ich mich um und sehe sie weiter friedlich grasen. Ich kann nicht mehr sagen, welcher von den Hirschen der ist, dessen Fährte ich folgte und den ich wiedergefunden hatte.